„Für die Fühlenden ist das Leben eine Tragödie. Für die Denkenden eine Komödie.“
Hin und wieder bemächtigen sich tief greifende Ideen auf fast vehexte Weise unseres Bewusstseins. Das obige Zitat aus einem chinesischen Glückskeks, einem von Hunderten in meiner Sammlung, ist ein gutes Beispiel. Seine Aussagekraft im Hinblick auf Wolfgang Petricks Vorgehen in der Rolle des Künstlers und Lehrers ist gleichbedeutend, wenn nicht gar zutreffender für unser Kunstverständnis im Allgemeinen und für moderne oder zeitgenössische deutsche Kunst im Besonderen.
Mag es nun an Deutschlands einzigartiger, politischer und intellektueller Vergangenheit liegen oder an seinen kulturellen Gelüsten, wir haben uns daran gewöhnt, von Deutschland eine Kunst des reinen Gefühls zu erwarten: Kunst als Ausdruck reinster Freude oder tragischer Verzweiflung, als Ausdruck von Angst und Schmerz. Historisch gesehen spiegelt diese Betonung von Expressionismus aber nur die eine Hälfte des Spektrums wider.
Während sich das gefühlbestimmte Auge mit natürlichem Reflex von dem Unbequemen und Grotesken abwendet oder es tränenerfüllt nur noch verschwommen wahrnimmt, behält das durch den stets fragenden Intellekt geschulte Auge seine konzentrierte Sehschärfe und wird so, hoffentlich, zu einem Werkzeug, das einen hohen Grad an Analyse und Interpretation ermöglicht. Wie Wölfflin sagt: „Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich. So hat das Denken seine bestimmte Entwicklung und man unterscheidet verschiedene Denkstufen - warum sollte die Kunst in ihrem anschauenden Verhältnis zur Welt eine Ausnahme machen.“ (1)
Mit Beginn des neuen Millenniums, so argumentiert Marc Spiegler, betreten wir eine neue Kunstepoche, dei Zeit der „Post Socialist Art“ (2). Es ist an der Zeit, eine unbelastete und unvoreingenommene Sichtweise anzustreben. Die Fähigkeit, scharfsichtig zu beobachten und gleichzeitig für Neues offen zu bleiben, erlaubt uns nicht nur, den künstlerischen Impuls unmittelbar zu erfahren, sondern ermöglicht es uns auch, nützliche und angenehme Erkentnisse aus einem scheinbar überwältigenden Überfluss an Information zu ziehen.
Die 1970er-Jahre markierten den Anbruch einer einzigartigen Kunstperiode in Europa und vornehmlich in Berlin. Ein Vierteljahrhundert ist seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen, bevor mit dem Wiederaufbau, dem Wachstum einer erstarkenden Wirtschaft und dem Status Berlins als einer geteilten Stadt ebendiese Stadt zum Brennpunkt östlicher sowie westlicher Anstrengungen in Politik und Kultur wird.
Ihr Ruf als kultureller Mittelpunkt Zentraleuropas fasziniert die beiden konkurrierenden Supermächte und erhöht deren Bereitschaft zur Mitarbeit, da beide in einer Situation, die oft als kultureller „Kalter Krieg“ empfunden wurde, um die Herzen und die Seele der Leute buhlen. Das schafft natürlich außerordentlich günstige Voraussetzungen für künstlerische Entwicklungen. Die sich vom deutschen Idealismus Kants und Hegels herleitende Greenbergsche Ästhetik, gepaart mit einer gesunden Dosis Marxismus und Freudscher Psychoanalyse, lieferte den entschiedenden Impuls für die Abstrakten Expressionisten. Der Zynismus der Pop Art repräsentierte einen Ableger des existentialistischen und dekonstruktiven Gedankenguts, wie es durch Heidegger, Sartre und Derrida überliefert war.
Ironischerweise waren es Amerika und der kapitalistische Westen, die sich linksgerichtete Philosophien zu Eigen machten, um ihre Zielsetzung der kreativen Freiheit des Einzelnen zu untermauern. Fast zur gleichen Zeit übernahm das sozialistische Ostdeutschland die begrenzten Ideale des von Stalin geforderten Sozialistischen Realismus.
Ein großer Teil der überkommenen konservativen Bildersprache dieses staatlich anerkannten Stils beruht auf den klassischen Traditionen, die von den wohlhabenden Kaufmannsfamilien und der katholischen Kirche der Hochrenaissance ins Leben gerufen worden waren. Später wurde dieser Stil dann während der 1920er-und 1930er-Jahre von Georg Lukács als marxistische Ästhetik vereinnahmt.
Es kommt zu einer merkwürdigen Parallelentwicklung von zwei konkurrierenden ästhetischen Grundsätzen, die von Kräften propagiert werden, die hinsichtlich des Ideengehalts scheinbar antithetisch positioniert sind. Das führt zu einem ungewöhnlichen Panorama, als ob die Bewohner Berlins zwischen zwei riesegen Spiegeln lebten.
Betrachter, die entweder nach Osten oder nach Westen schauen, sehen nur pervers entstellte Widerspiegelungen ihres Gegenteils, die sich unendlich wiederholen. So verwundert es nicht, dass in dieser Welt der trügerischen Illusionen der Gedanke aufkommt, die „Wirklichkeit“im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen.
Kritischer Realismus ist die logische Folgeerscheinung dieses zweigleisigen Wetteiferns von konkurrierenden Interessen. Als Gründungsmitglied erlebt Wolfgang Petrick die ersten Impulse propagandischer Bilder sowie auch die Wirkung von Propaganda im Musik- und Theaterbereich, wie sie von der jungen DDR mit ihren Kollektivvorstellungen von einem Nobelproletariat propagiert wurden. Er besucht auch Ausstellungen der amerikanischen Abstrakten Expressionisten und der Pop Art, die von der amerikanischen Regierung diskret gefördert wurden.
Anstatt nur die vorherrschenden Prinzipien der einen oder der anderen Bewegung einfach augzugreifen, entwickeln Petrick und die Kritischen Realisten eine Art von Realismus, der sowohl die Vormachtstellung der westlichen Abstraktion herausfordert als auch die proletarische Erzählhaltung und die neoklassizistischen Traditionen hinterfragt, wie sie die Ostblockstaaten zum Ausdruck brachten.
Dieser anscheinend widersprüchliche Ansatz, die Gegensätze zwischen Ost und West, zwischen der akademischen Norm und dem Andersdenkenden, zwischen dem ideologischen Intellekt und der menschlichen Erfahrungswelt bilden möglicherweise den Kernansatz für das, was diese Künstlergeneration, die sich später die Kritischen Realisten nannte, ausdrücken wollte.
Gesprächsweise erwähnte Petrick auch weitere Einflüsse: „Die Neue Sachlichkeit, die in gewisser Weise Teil des Dadaismus war...oder andere wie Grosz, Dix und vielleicht Beckmann.“ ( 3) Außerhalb Berlins gab es mehrere andere Formen von „Realismus“, die sich als Reaktion auf die Abstraktion manifestierten.
Um einige zu nennen: der Nouveau Réalisme in Paris, der Kapitalistische Realismus von Gerhard Richter und der Düsseldorfer Szene sowie der Fotorealismus in Kalifornien. Die Kritischen Realisten unerschieden sich von diesen Formen des „Realismus“durch ihre Skepsis gegenüber kulturellem Überfluss und der Entmenschlichungstendenz der Konsumkultur. Mit ausgefeilter Technik und Präzision schufen sie von Satire und Witz durchgezogene Bilder, um die Zielscheiben ihres Spotts bloßzustellen.
(1) Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 5. Aufl., München 1921, S. XI.
(2) Marc Spiegler, „Are the YGAs Supplanting the YBAs”, in: The Art Newspaper, Vol. XIV, no. 151, Oktober 2004, S. 47.
(3) Alle Zitate entstammen einem Interview mit Wolfgang Petrick, Williamsburg (Brooklyn, New York), 19. Dezember 2004. (Zitate wurden aus dem Englischen übersetzt.)