Im Jahr 1919 wurde ein Briefumschlag an der Tür von Albert Einstein abgegeben. Die Theorien, die dieser Umschlag enthielt, waren so weit fortgeschritten, dass selbst Einstein sie nicht verstehen konnte. Zwei Jahre voller nachdenken vergingen, bevor er Theodor Kaluza, den unbekannten, deutschen Mathematiker, dessen Theorie Einsteins eigene Arbeit an der Relativitäatstheorie erweitert hatte, davon in Kenntnissetzte, dass sich in der Tat die Idee der Vereinigung von Elektromagnetismus und Schwerkraft und sogar der fünften Dimension rational untermauern ließen.
So revolutionär diese Ideen auch waren, es dauerte fast fünfzig Jahre, bevor die Naturwissenschaften und die Mathematik sie sich zu eigen machten und in der Lage waren, diese Ideen zur Grundlage der „string theory“ zu machen.
Es mag eine Übertreibung sein zu sagen, dass die Ideen des Kritischen Realismus ein ähnliches Ausmaß an Bedeutung ereichen wie eine fünfte Dimension; aber es besteht eine Parallele darin, dass dreißig Jahre vergingen, bis diese Ideen aufgegriffen und ihre Bedeutung ins rechte Licht gerückt wurden.
Während dieser Zeit hatte sich die Fähigkeit zu „sehen“ in der Gesellschaft entwickelt. Der gesunde Skeptizismus einer kritischen Einstellung wurde ein populärer Bestandteil der Philosophie: der Hermeneutik. Die Logik der skeptischen Ironie ist klar: Zerfall ist das Material für die Geburt des Neuen. Geschichte wird zum Werkzeug, das einem hilft, die Zukunft zu betreten. Chaos ist lediglich eine andere Art von Ordnung. Die Techniken un Materialien in seinem eigenen Werk sind unterschiedlich und komplex: Gemälde, Zeichnungen, Drucke, Buchillustrationen, Collagen, Skulpturen, Montagen und computerbearbeitete Fotografie. Er setzt Zeichnungen über Gemälden und Collagen oder erstellt Montagen mit Fotografien und Drucken.
Dieser Modalitätenwechsel von flächig zu linear, von realistisch zu expressionistisch und weiter zu gotisch, verschmilzt irgendwie zu einem überzeugenden Bild, das alle Regeln für die Gleichförmigkeit künstlerischer Intention sprengt. Petrick ist ein figurativer Künstler; er schildert den Zustand der Menschheit in all ihren Gebrechen, ihrer nackten Komik und ihrem Sexverhalten. Hände und Füße nehmen riesige Proportionen an, als ob sie ihre Bedeutung als Mittel und Vermittler sinnlicher Erfahrung an den Tag legen müssten. Stiefel, Schuhe und Rollerblades sind immer wiederkehrende Motive, die fast ein fetischistisches Interesse bekunden. Die Skulpturenserie Glashaus ist die aktuelle Entwicklung eines Gegenstandes, den Petrick seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn verwendet hat. Diese Glaskästen mit spitzen Dächern enthalten Objekte (Raumfahrthelme oder Figuren) und erzeilen ihre Wirkung in einem Raum zwischen Schaukasten und Reliquienschrein.
Petrick entwickelte ein Verfahren, welches eine Art Gegen-Intuitions-Instinkt ausmacht; das skeptische Hinterfragen von gesellschaftliches Gemeingut gewordenen Ideen und Weisheiten; die Fähigkeit, Bilder und visuelle Information zu analysieren und zu dekonstruieren, indem man wissenschaftliche Kriterien anlegt; die Fähigkeit, die „Wirklichkeit“des Dargestellten zu erkennen; eine pragmatische Anwendung von Methoden, die Probleme lösen, anstatt einer blinden Ergebenheit an die gegenwärtige Lehre; die Ablehnung von modischen Trends bei der Suche nach zeitlosen Lösungen; schließlich die Erkenntnis, dass Geschichte sich nicht länger linear, sondern dreidimensional darstellt.
Das sind einige der Faktoren, die diese Künstler ermutigten, tiefer zu schauen und vielleicht eine neue Inhaltsdimension zu entdecken, eine Dimension, die tief im Individuum selber liegt.
James Kalm
(Essay aus der Abhandlung: „Die Suche nach Visionen im Spiegelsaal der Bilder“, James Kalm, “Deep Action“: Wolfgang Petrick und Meisterschüler. Heidelberg: Kehrer Verlag 2005, 25-67)